Pablo de Rokha: Politischer Kopf und Poet der Avantgarde
Pablo de Rokha (1922, 1965). Ertmals sind seine Gedichte und seine Liebeslyrik in deutscher Sprache zu lesen. Fotos: Memoria Chilena
Berlin, 9. Oktober 2020. Pablo de Rokha (1894 bis 1968) gilt als Avantgardist und als einer der wichtigsten Vertreter der lateinamerikanischen Lyrik. In der nun vorliegenden Anthologie "Mein Herz brüllt wie ein rotes Tier" (Edition Schwarzdruck, deutsch-spanische Ausgabe) ist eine Auswahl seiner Gedichte aus den Jahren 1916 bis 1966 erstmals in deutscher Sprache veröffentlicht. Die Ausgabe enthält zudem verschiedene Gedichte von Winétt de Rokha, der Ehefrau, Muse und wichtigsten Weggefährtin des Poeten. Übersetzer Reiner Kornberger gibt uns im Interview einen Einblick in das Leben und Werk des chilenischen Künstlers, der zeitlebens ein sehr spannungsreiches Verhältnis zu seinem Zeitgenossen Pablo Neruda und dessen Kunst pflegte.
Was für ein Mensch war Pablo de Rokha?
Ein Mann mit Ecken und Kanten. Schon seine Schulkameraden nannten ihn „Amigo Piedra“ (Freund Stein). Seine äußere Erscheinung muss imposant gewesen sein, ein Hüne mit Stentorstimme, der sich aufgrund seiner Herkunft eher mit einfachen Leuten als mit der feineren Gesellschaft verstand. Groß war die Zahl seiner Feinde, doch vielen war er auch ein treuer Freund, mit dem man prächtig feiern konnte, und ein Familienmensch außerdem, der den „Klan Rokha“ zusammenhielt. Der Zeit entsprechend war er auch ein Macho, der aber das literarische Wirken seiner Frau Winétt nach Kräften unterstützte und für den eine Welt zerbrach, als sie 1951 starb.
Wie spiegelt sich die Welt in seiner Dichtung? Was macht sie so besonders?
Im Kosmos der meist freien Verse de Rokhas finden sich die ewigen Themen der Menschheit wie Liebe und Tod, die individuellen wie kollektiven Befindlichkeiten, die politischen und sozialen Kämpfe seiner Zeit und ihre Protagonisten, die Geographie Chiles und seine Bewohner, die Speisen und Getränke seines Landes. Seine Motive gestaltete er stets in einer überbordenden bild- und metaphernreichen, oft geradezu barocken Sprache, die er selbst als „vulkanisch, insular, dramatisch ozeanisch“ bezeichnete. Seine Lyrik ist nie hermetisch, fordert aber das Mitwirken und Mitempfinden der Leserschaft.
Nach welchen Gesichtspunkten wurden die Gedichte für diese erste deutsch-spanische Anthologie ausgewählt?
Es wurden Texte aus allen Schaffensphasen ausgewählt, von den frühen anarchistischen Anfängen über Futurismus, Surrealismus, das politische Engagement bis hin zum „Schwanengesang“ der großen Altersgedichte. Kämpferische Texte wie auch die Liebeslyrik sollen wechselseitige Bezüge zwischen Pablos Schaffen und dem seiner Frau Winétt herstellen. Daneben stehen auch Gedichte und Aphorismen, die seine Auseinandersetzung mit dichtungstheoretischen Fragen beleuchten.
Welches ist Ihr Lieblingsgedicht?
Aus einem derart umfangreichen Oeuvre Lieblinge herauszupicken fällt schwer. Mich beeindrucken nach wie vor so unterschiedliche Texte wie das Liebesgedicht „Kreis“ oder der furiose Aufschrei „Fluch der faschistischen Bestie“.
Wie erklärt es sich, dass dieser Künstler im allgemeinen Bewusstsein so lange vergessen war und jetzt wiederentdeckt wird?
Da sich der Querkopf und Polterer de Rokha mit den Kontrolleuren des Literaturbetriebs anlegte, seine Werke selbst verlegte und von Haus zu Haus verkaufte, waren diese nach seinem Tod kaum mehr verfügbar. Sein Wirken hatte ihn jedoch zu einem Mythos für viele Chilenen gemacht, ohne dass dieser Verehrung ein tieferes Werkverständnis zugrunde gelegen hätte. Seit den 90er Jahren, vor allem aber seit der Jahrtausendwende haben jüngere Generationen durch Neuauflagen seiner Werke und zahlreiche akademische Studien sein ästhetisches Erbe wieder in das kulturelle Bewusstsein zurückgeholt. Das hat schließlich auch im Ausland zu repräsentativen Anthologien geführt, 2018 in den USA, 2019 in Russland und in diesem Jahr auch hierzulande.
Wie lässt sich sein (künstlerisches) Verhältnis zu Pablo Neruda beschreiben?
Neben persönlichen Animositäten vermisst Pablo de Rokha bei dem zehn Jahre jüngeren Neruda vor allem das Beharren auf einer avantgardistischen Schreibweise, die progressive Botschaften mit einem ebensolchen Stil verbindet. Er wirft Neruda vor, in den stilistisch modernen Texten politisch-soziales Engagement auszuklammern und in den politischeren Texten einen überkommenen Stil zu pflegen.